„Wer macht denn wohl sowas?“
Mit dieser Frage im Hinterkopf über
die anderen mir noch unbekannten Teilnehmer mache ich mich auf den
Weg zur Akademie am Meer auf Sylt zum 5-Tage-Intensivkurs „Achtsames
Selbstmitgefühl“ (Mindful Selfcompassion) von
Evelyn Rodtmann und Christel von Scheidt. Schon im März 2017 hatte ich den im November
stattfindenden Kurs gebucht. Zuvor hatte ich das Buch
„AchtsamesSelbstmitgefühl“ von Christopher Germer gelesen, welches mich sehr
begeistert hatte. Die Übungen und Anregungen ließen sich aber nicht
so einfach im Alltag umsetzen. Außerdem wollte ich endlich mal einen
längeren Meditationskurs besuchen, der nicht gleich ein kompletter
Schweigekurs ist. Dazu kommt, dass ich sowieso eine ganz besondere
Zuneigung zur Natur auf der Insel Sylt pflege.
Ich komme bei Nieselregen an der
Akademie am Meer an, das Verwaltungsgebäude ist bereits geschlossen.
Jedoch begegne ich einem sehr hilfsbereiten Mitarbeiter, der mir
zeigt, wo mein Schlüssel liegt, mir das Haus mit meiner Unterkunft
zeigt und mir auch alle sonstigen Informationen zukommen lässt. Und
dies alles obwohl er schon längst Feierabend hat. Wenn das nicht ein
perfekter Start ist.
Klappholttal, die Akademie am Meer,
liegt zwischen den Nordseebädern Kampen und List. Die
Volkshochschule Klappholttal ist eine Stätte der Jugend- und
Erwachsenenbildung. Als Teilnehmer eines Kurses oder als Urlaubsgast
wohnt man in einfachen, behaglich eingerichteten Einzel-, Doppel-
oder Mehrbetthäusern. Die Häuser liegen verstreut im
akademieeigenen Dünengebiet, das 7,5 ha umfasst (siehe auch:
http://www.akademie-am-meer.de).
Es hat etwas von einem kleinen Dorf,
in dem Menschen aller Coleur eine Vielzahl von VHS-Intensivkursen
belegen. Das Ausmaß des Angebots wird mir jedoch erst beim Besuch
des Speisesaals bewusst. Sind dies alles Menschen von meinem Kurs?
Nein, das kann nicht sein. Erstmal einen Teller nehmen und diesen mit
Leckereien vom Büffet auffüllen. Aber wo kann ich mich denn nun
hinsetzen? Ah, da ist ein 4er-Tisch frei. Oh nee, da ist ein Schild,
dass es sich hierbei um den Tisch für eine QiGong-Gruppe handelt.
Nach ein wenig tolpatschigem Herumgeiere finde ich dann doch den
Tisch, der für „mein“ Seminar reserviert ist. Ein paar Menschen
sitzen schon dort, andere gesellen sich nach und nach dazu … Ich werde
neugierig! Man kommt ins Gespräch.
Nach dem Abendessen treffen wir uns in
unserem Seminarraum. Für jeden liegen 2 Decken auf 2 Yogamatten
bereit. Es ist gemütlich und einladend. Die Seminarleiterinnen sind
so sympathisch wie Sie auf Ihrer Webseite wirken. Was ein Glück! Wir
kommen zunächst mit einer kurzen Meditation im hier und jetzt an.
Irgendwann beginnt die Vorstellungsrunde. Hierbei fällt mir sofort
positiv auf, dass wir uns nicht reihum vorstellen, also nicht einer
gezwungen ist, mit der Vorstellung seiner Selbst zu beginnen, nur
weil er oder sie zufällig am Rand sitzt, sondern jeder sich seinen
Zeitpunkt selbst auswählen kann. Ich stelle fest, dass ich es die
nächsten Tage mit interessanten Menschen zu tun haben werde und gehe
nach unserem ersten Zusammentreffen mit einem äußerst angenehmen
Gefühl ins Bett.
Aber worum genau geht es jetzt
eigentlich in dem Seminar genau? Es geht darum eine geistige Haltung
zu erlernen und zu entwickeln, um sich selbst mit Freundlichkeit und
Akzeptanz zur Seite zu stehen - auch in schwierigen Momenten den
Lebens. Jeder von uns kennt den inneren Kritiker. Schon in einer der
ersten Übungen am zweiten Tag wird uns allen sehr bewusst, wie stark
dieser innere Kritiker in jedem von uns „wütet“. Zunächst
stellen wir uns vor, was wir zu einem guten Freund sagen, wenn dieser
in einer Krise steckt oder wenn ihm etwas misslungen ist. Danach
stellen wir uns vor, was wir in einer ähnlichen Situation zu uns
selbst sagen, wenn wir in einer Krise stecken oder uns etwas
misslungen ist. Der Unterschied, den in unserer Gruppe alle von uns
ausmachen können, ist aufrüttelnd. Um uns selber mit mehr
Freundlichkeit im Leben zu begegnen und unser Leben so letztendlich
auch weniger stressig zu erleben, bekommen wir Theorie
veranschaulicht - mittels Flipchart und Filmmaterial - und beruhend auf
psychologischen Forschungsergebnissen und wir erlernen
Achtsamkeits- und Meditations-Übungen, die ihren Ursprung unter
anderem im Buddhismus haben.
Im weiteren Verlauf der Tage – wir
haben uns alle schon besser kennengelernt – machen wir auch
Partnerschaftsübungen und tauschen uns in Kleingruppen aber auch
immer wieder in der großen Gruppe aus. Wenn beabsichtigt ist, sich
nach den Übungen in Kleingruppen auszutauschen, wird von den
Gruppenleiterinnen immer darauf hingewiesen, dass man sich als Thema
für die Übung eines aussuchen soll, welches man auch in der
Kleingruppe offenbaren möchte. Evelyn und Chris haben das was sie
lehren wirklich verinnerlicht, denn sie führen uns im Gespräch
immer wieder geschickt ins hier und jetzt. Beim Auftauchen von
schwierigen Gefühlen stehen die beiden jedem einzelnen stets zur
Seite. Einzelgespräche nach den Seminarzeiten werden vielfach in
Anspruch genommen.
In den freien Zeiten bleibt Zeit um die
Insel zu erforschen. Nur ein paar Meter von dem beschaulichen „Dorf“
die Düne hinauf, schon wird man von der lebendigen Nordsee
empfangen.
Das Wetter ist wechselhaft, aber der freie Vormittag wird
von dem starken Team der beiden Kursleiterinnen gekonnt mit Hinblick
auf die Wettervorhersage eingeplant. Einige von uns mieten sich
Fahrräder, andere machen Spaziergänge am Meer Richtung Kampen oder
nehmen die Fähre nach Dänemark, wieder andere, nämlich unsere
Gruppe, besuchen den nördlichsten Punkt Deutschlands am
Ellenbogen (wahlweise auch schon mal irrtümlich als "Wir fahren doch heute zum
Knie?" bezeichnet),
an dem sich zufällig gerade zig Seehunde um eine "rastende Robbe" scharen.
Abends kann man sich über das Gelernte, schon zuvor besuchte
Retreats und Workshops oder interessante Bücher im Gemeinschafts-
oder Glashaus austauschen, zusammen lachen, stricken o. ä.
Erwähnen möchte ich außerdem noch
die vierstündige freiwillige Schweigezeit, an der alle Teilnehmer
einen Nachmittag teilgenommen haben. Hierbei kann man ein wenig
austesten, ob eventuell ein Schweigeretreat etwas für einen ist. Wir
nehmen schweigend in der Gruppe unser Essen ein (welches mir an allen
Tagen übrigens überaus gut geschmeckt hat, obwohl ich sehr pingelig
bin) und unternehmen beispielsweise einen Genuss-Spaziergang im
Schweigen.
Allerdings tat mir die Frau aus einem anderen Kurs etwas
leid, die ich in den Dünen traf und die mit mir ein nettes Gespräch
beginnen wollte. Ich hoffe, ich konnte ihr höflich verständlich
machen, warum ich gerade nicht für ein Gespräch zu haben war ...
Alle Teilnehmer haben die Stunden im Schweigen sehr genossen.
Nach intensiven Tagen in der
Gemeinschaft und ebenso intensiven Ausflügen in die Natur sowie in die eigenen
Gefühlswelten - „dies ist kein Wohlfühlkurs“ - ging der Kurs
dann schon seinem Ende entgegen. Jeder hat etwas aus dem Kurs für
sich mitgenommen, da Evelyn und Christel es schafften, auf alle 12
Personen individuell einzugehen. Davor ziehe ich meinen Hut.
Als
Gruppe haben wir mitgenommen, wie schnell eine Gemeinschaft von
Fremden zu Bekannten und Freunden zusammenwachsen kann, dass jeder
oft mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hat, teilweise aber auch mit
ganz anderen. Jeder in der Gruppe hat seine Berechtigung, jeder kann
einem die Augen öffnen oder ganz viel Unterstützung geben. In der
Abschlussrunde verrate ich, dass ich, je näher der Kurs rückte,
doch auch ein paar Zweifel hatte.
Frage: „Wer macht denn wohl sowas?“
Antwort: „Menschen wie Du und ich,
die sich für mehr interessieren als nur für Konsum und Karriere,
die schon die ein oder andere Krise gemeistert haben und lernen
möchten freundlicher mit sich selbst und mit der Welt umzugehen.“
Ich fahre auf der Straße, die von Klappholttal Richtung Westerland führt zum Terminal des Syltshuttles. Das tiefstehende sonnige Novemberlicht schafft eine
atemberaubende Atmosphäre. Schwalbenschwärme und ein
Star-Trek-Soundtrack (
„That new car smell“) begleiten mich auf
meinem Weg über die Insel. Wie oft sagt man heutzutage „Alles
gut“. Aber jetzt gerade in diesem Moment ist wirklich alles gut so
wie es ist ...
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